WIMT Newsletter 04/20


Kein Kündigungsgrund wegen gänzlicher Weitergabe, wenn sich der Bezug durch einen nahen Angehörigen durch Renovierungsarbeiten um zwei Jahre verzögert.   

 

Das Tatbestandsmerkmal des dringenden Wohnbedarfs „in naher Zeit“ kann auch durch Zeiträume, die ein Jahr erheblich übersteigen, verwirklicht sein.

 

Im streitgegenständlichen Fall bewohnte der Mieter zusammen mit seiner Ehegattin und seiner Tochter eine 32,13 m² große Wohnung. Da diese Wohnung „zu klein wurde“, mietete seine Ehegattin eine weitere ca 60 m² große Wohnung an, in die die Familie übersiedelte. Bereits bei der Übersiedlung war geplant, dass die erste Wohnung renoviert wird und die Tochter des Mieters (im Alter von 16 Jahren) in diese allein zurückkehren soll. Die Renovierungsarbeiten dauerten zwei Jahre. Nach deren Abschluss zog die Tochter des Mieters in die Wohnung zurück. Der Vermieter machte den Kündigungsgrund der gänzlichen Weitergabe gem § 30 Abs 2 Z 4 MRG geltend.

 

§ 30 Abs 2 Z 4 erster Fall MRG bestimmt, dass als ein wichtiger Grund, aus welchem der Vermieter den Mietvertrag kündigen kann, anzusehen ist, wenn „der Mieter den Mietgegenstand [...] ganz weitergegeben hat und ihn offenbar in naher Zeit nicht für sich oder die eintrittsberechtigten Personen (§ 14 Abs 3) dringend benötigt“. Der Tatbestand setzt damit einerseits die gänzliche Weitergabe, andererseits das Fehlen eines dringenden Bedarfs voraus (8 Ob 105/18a). Unter „Weitergabe“ iSd § 30 Abs 2 Z 4 erster Fall MRG ist jede entgeltliche oder unentgeltliche Gebrauchsüberlassung zu verstehen (RIS-Justiz RS0070718RS0070650 [T1]). Es geht dabei um die –  vom Willen der Beteiligten, vor allem des die Wohnung verlassenden Mieters getragene  – Überlassung des Mietgegenstands an Dritte, also um den tatsächlichen Vorgang des Verlassens der Wohnung durch den Mieter und deren Übernahme durch einen Dritten.

 

Zur Abwehr der Kündigung nach § 30 Abs 2 Z 4 erster Fall MRG reicht es, wie aus dem Gesetzeswortlaut ersichtlich, dass der Mieter den weitergegebenen Mietgegenstand „offenbar in naher Zeit“ für sich oder die eintrittsberechtigten Personen (§ 14 Abs 3 MRG) dringend benötigt. Wegen des Wortes „offenbar“ muss der zukünftige Bedarf konkret sein; es kommt nicht so sehr auf den Zeitraum, sondern auf die gesicherte Zukunftsprognose an. Das Tatbestandsmerkmal „in naher Zeit“ kann auch durch Zeiträume, die ein Jahr erheblich übersteigen, verwirklicht sein (vgl RS0068919). Bei der Zukunftsprognose, ob der Mieter den Mietgegenstand offenbar auch in naher Zeit nicht für sich oder eine eintrittsberechtigte Person dringend benötigt, ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Weitergabe des Mietgegenstands abzustellen (RS0070701).

 

Schon angesichts der geringen Größe der neuen Wohnung (60 m²) und des Umstands, dass die Tochter bei Anmietung der zweiten Wohnung bereits 16 Jahre alt war, lag es bei der Weitergabe der aufgekündigten Wohnung auf der Hand, dass die Tochter des Mieters in absehbarer Zeit dringend eine eigene Wohnversorgung benötigt. Dass die Tochter nicht allein in der aufgekündigten Wohnung verblieb, war bereits wegen ihrer damaligen Minderjährigkeit und der damit einhergehenden elterlichen Obsorge sowie des Renovierungsbedarfs gerechtfertigt.

 

OGH 23.10.2020, 8 Ob 68/20p

 

https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer=JJT_20201023_OGH0002_0080OB00068_20P0000_000